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06.12.2025
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FÜR EIN GESETZLICH VERANKERTES RECHT AUF NICHTERREICHBARKEIT

Wo ein Forscher digitalen Stress sieht

Sven Steffes-Holländer - Facharzt für Psychosomatische Medizin & Psychotherapie / Sozialmedizin / Verkehrsmedizin, Ärztlicher Direktor  Heiligenfeld Kliniken GmbH

Sven Steffes-Holländer - Facharzt für Psychosomatische Medizin & Psychotherapie / Sozialmedizin / Verkehrsmedizin, Ärztlicher Direktor Heiligenfeld Kliniken GmbH [Quelle: Mosch]


"Technik, die überfordert, macht krank", betont Sven Steffes-Holländer. Der Ärztliche Direktor der Heiligenfeld Kliniken und Facharzt für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie hat eine ganz Reihe von konkreten Hinweisen gerade an Führungskräfte, aber auch Tipps zur Steigerung der Resilienz für alle und Forderungen an die Politik. Die Heiligenfeld Kliniken sind eine der führenden Klinikgruppen in Deutschland mit dem Schwerpunkt Psychosomatische Medizin – für Erwachsene, Kinder und Jugendliche. 


Wie lässt sich digitalem Stress durch Erreichbarkeit und Erwartungsdruck vorbeugen?
Digitaler Stress entsteht häufig dort, wo Menschen psychologisch das Gefühl haben, nie wirklich „abgemeldet“ zu sein. Aus therapeutischer Sicht spricht man hier von einem daueraktivierten Stresssystem, das keine echte Regeneration zulässt. Vorbeugen lässt sich nur durch verbindliche Strukturen: klare Erreichbarkeitszeiten, feste Pausenfenster, Fokuszeiten ohne Störung.

Besonders wichtig ist dabei das Verhalten von Führungskräften: Wer als Vorgesetzte:r Mails nach 20 Uhr schreibt oder im Urlaub erreichbar ist, sendet eine starke Botschaft an das Team,  meist ohne sie zu reflektieren. Auch das bewusste Training digitaler Selbstregulation, etwa durch Micro-Breaks, Atemübungen oder klare Start- und Endrituale, kann helfen, wieder psychophysiologische Ruhe zu etablieren.

Als Problem wird auch die mangelnde Benutzerfreundlichkeit digitaler Tools empfunden – was lässt sich dagegen unternehmen?
Technik, die überfordert, macht krank. Wenn Mitarbeitende Tools nicht intuitiv bedienen können, entsteht Frustration, kognitive Überforderung und das Gefühl, nicht mehr mitzukommen. Das ist kein Softwareproblem, eher ein psychologisches. Die Lösung liegt in partizipativer Einführung, in Schulungen, in Raum für Ausprobieren und natürlich in der Reduktion auf das Wesentliche.

In der Psychosomatik wissen wir: Komplexität ohne emotionale Einbettung erzeugt Spannungszustände. Die besten Tools nützen nichts, wenn ihre Nutzung als Bedrohung erlebt wird. Führungskräfte sollten Mitarbeitende nicht nur technisch, sondern auch emotional durch digitale Veränderungen begleiten – mit Zeit, Verständnis und psychologischer Sicherheit.

Welche zusätzlichen Stresspotenziale sehen Sie durch neue KI-Anwendungen kommen – oder wie kann KI vielleicht helfen, digitalen Stress zu vermindern?
KI kann beides: verstärken oder entlasten. Psychologisch riskant ist der Kontrollverlust, den viele Menschen im Kontakt mit lernenden Systemen erleben. Wenn Ergebnisse nicht nachvollziehbar sind oder Prozesse entpersonalisiert werden, steigt das Stressniveau. Gleichzeitig liegt genau darin auch das Potenzial: KI kann wiederkehrende, kognitive Last reduzieren, z. B. durch E-Mail-Zusammenfassungen oder automatische Protokolle.

Entscheidend ist das Wie: KI muss in definierte Anwendungsfelder eingebettet, begleitet und erklärt werden. Besonders wirkungsvoll sind sogenannte KI-Agenten mit klaren Rollen, deren Aktionsradius transparent kommuniziert wird. So kann KI zu einem stressmindernden Instrument werden – statt zum neuen Belastungsfaktor.

Ihre Initiative forscht auch zur Resilienz im digitalen Wandel – warum ist die so wichtig?
Weil digitale Transformation nicht nur Technik ist, sondern ein psychosozialer Veränderungsprozess. Viele Mitarbeitende erleben die ständige Neuerung als Bedrohung: von Routinen, Identitäten, Arbeitsbeziehungen. Resilienz bedeutet: mit Wandel innerlich stabil umgehen zu können, ohne die Verbindung zu sich selbst oder anderen zu verlieren. Es geht um mehr als Stressbewältigung, es geht um innere Haltung.

Unsere Erfahrungen zeigen: Wer über eigene Stressreaktionen reflektieren kann, über Körperwahrnehmung, Werteorientierung und Selbstregulation verfügt, ist besser geschützt vor digitaler Erschöpfung. Psychologisch wirksame Resilienzprogramme müssen praxisnah, interaktiv und langfristig angelegt sein, nicht als Tool, sondern als Haltung.

Welche rechtlichen Rahmenbedingungen sollte die Politik aus Ihrer Sicht gegen digitalen Stress am Arbeitsplatz schaffen?
Zentral ist ein gesetzlich verankertes Recht auf Nichterreichbarkeit, nicht als symbolischer Akt, sondern als konkreter Schutzraum im Arbeitsalltag. Darüber hinaus braucht es eine verpflichtende digitale Gefährdungsbeurteilung: Werden Tools überforderungsfrei eingeführt? Gibt es Regeln zur Erreichbarkeit? Wie viele Plattformen sind parallel im Einsatz? Wie werden psychische Belastungen im Homeoffice erfasst? 

Das Arbeitszeitgesetz muss an die digitale Realität angepasst werden mit Schutzvorgaben für mentale Ruhezeiten, für konzentriertes Arbeiten und gegen die Entgrenzung des Arbeitstages. Es braucht weniger Appelle und mehr Verbindlichkeit, damit seelische Gesundheit auch in digitalen Zeiten geschützt bleibt.